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Büdinger Sozialdemokratie und Geschichte der SPD

1893-1903

Über die Anfänge der Partei in Büdingen wissen wir sehr wenig. Dokumente und Protokollbücher aus der Anfangszeit gibt es nicht mehr. Der älteste Hinweis findet sich in einem Zeitungsbericht vom 29. Mai 1893 über eine Versammlung am 28. Mai. In ihr stellten die Sozialdemokraten den Gastwirt Prinz aus Frankfurt als Kandidaten für die bevorstehende Reichstagswahl auf. Die Versammlung sei "sehr stark besucht" gewesen. Drei Jahre nach der Aufhebung des "Gesetzes gegen die allgemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" bekannten sich also Büdinger öffentlich zu den Sozialdemokraten. Prinz erhielt bei der Reichstagswahl fast ein Viertel aller abgegebenen Stimmen. Auf den ersten Blick mag das nicht weiter aufregend erscheinen, aber man muss sich klarmachen, unter welchen Bedingungen damals gewählt wurde. Am Ende des 19. Jahrhunderts waren nur etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung wahlberechtigt. Sie übten ihr Wahlrecht öffentlich aus: es gab keine amtlichen Stimmzettel; Stimmkuverts und Wahlkabinen wurden erst 1903, Wahlurnen gar erst 1913 eingeführt. Der Wähler hatte die Möglichkeit, entweder einen von der jeweiligen Partei vorbereiteten Wahlzettel abzugeben oder er schrieb den Namen des ihm genehmen Kandidaten auf einen weißen Zettel und gab ihn dann ab. Es ist einzusehen, dass das Wahlgeheimnis unter diesen Umständen leicht gebrochen werden konnte. Außerdem war der Wahltag ein Werktag und häufig kam es vor, dass der Meister und Vorgesetzte gemeinsam mit ihren Arbeitern zum Wahllokal gingen, wo sie dann sehr sorgfältig die Stimmabgabe ihrer Untergebenen überwachten und aus einer "falschen" Stimmabgabe Konsequenzen zogen. Es gehörte Mut dazu, sozialdemokratisch zu wählen! 

Bei den Wahlen von 1890, 1893 und 1898 kandidierte Heinrich Prinz für die Sozialdemokraten. Sein Lebenslauf spiegelt die Erfahrungen vieler führender Sozialdemokraten im Kaiserreich wider. Er wurde 1844 in Roßdorf bei Hanau geboren und erlernte das Schreinerhandwerk. 1865 zog er nach Frankfurt, wo er dem ADAV beitrat. Ein Jahr später eröffnete er eine Gastwirtschaft in Frankfurt und war unter dem Sozialistengesetz aktiv am Aufbau einer illegalen Parteiorganisation beteiligt. Sein Lokal wurde zum Treffpunkt von Gewerkschaften und Sozialdemokraten. 1886 wurde die gesamte Parteileitung - insgesamt 36 Personen - dort festgenommen. Im Januar 1887 wurde er zu einer Haftstrafe von sechs Monaten verurteilt und nach Verbüßung seiner Haft aus Frankfurt ausgewiesen. Seine Frau führte währenddessen die Gastwirtschaft weiter. Bei der Reichtagswahl vom Februar 1890 trat er zum ersten Mal als Kandidat für den Reichstagswahlkreis Friedberg-Büdingen an und kehrte nach dem Fall der Sozialgesetze nach Frankfurt zurück, wo er sofort wieder mit seiner Parteiarbeit begann. Im Februar 1891 vertrat er den Bezirk Friedberg-Büdingen als Deligierter auf dem ersten sozialdemokratischen Parteitag für Hessen-Darmstadt und Hessen-Nassau. 1903 gab er seine Gaststätte auf und arbeitete wieder in seinem alten Beruf. 1909 starb er bei einem Unfall. Heinrich Prinz hatte nicht nur durch seine eigenen Aktivitäten Spuren in der Arbeiterbewegung hinterlassen: er wurde zum "Stammvater" einer in vielfältiger Weise in der Arbeiterbewegung tätigen Familie, deren wohl derzeit prominentester Verteter sein Urenkel Rudi Arndt ist.


1903-1919

Nachfolger von Prinz als Kandidat im Reichstagswahlbezirk Friedberg-Büdingen wurde 1903 Heinrich Busold (8.12.1870-11.08.1917) aus Friedberg. Auch er war - wie Prinz - von Beruf Schreiner. Nach der Jahrhundertwende scheint er jedoch seine ganze Arbeitskraft der Politik gewidmet zu haben. Ab 1907 war er Stadtverordneter in Friedberg, ab 1909 Parteisekretär, 1910 gewann er das Reichstagsmandat, das bis dahin stets Waldemar von Oriola für die Nationalliberalen geholt hatte, und saß von 1911 bis 1915 im Hessischen Landtag. Doch nicht nur mit Politik und Wahlen beschäftigten sich die Büdinger Sozialdemokraten: Noch vor der Jahrhundertwende gab es in Büdingen einen Radfahr-Club und einen Arbeitergesangverein, zu Beginn des Jahrhunderts auch einen Arbeiter-Turnverein. Die Arbeiter kämpften nicht nur um ihre politischen Rechte und stritten nicht nur für die Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen - sie trafen sich auch zu Konzerten und Bällen, feierten Sommer- und Waldfeste, veranstalteten Sportwettkämpfe und Radrennen. Ihr neues Selbstbewusstsein, das sie überhaupt erst zur politischen Aktion befähigte, stammte sicher auch zu einem großen Teil aus der Erfahrung einer Gemeinschaft, in der sie nicht nur als Arbeitskräfte gebraucht wurden. Zentraler Ort vieler dieser kulturellen wie auch politischen Aktivitäten war in Büdingen der Saalbau Valentin. Friedrich Valentin war Anfang der 90erJahre nach Büdingen gekommen und als Gesellschafter an der neu gegründeten Glasfabrik beteiligt. Diese Glashütte stärkte die Wirtschaftskraft Büdingens entscheidend und ihre Arbeiter trugen wesentlich zum Anwachsen der Büdinger Sozialdemokratie bei. Als die Glashütte nach fast 20jährigem Bestehen stillgelegt wurde, zogen viele Glasarbeiter mit ihren Familien 1912 ins Saarland - die Bewegung blieb geschwächt zurück und konnte sich bis zum 1. Weltkrieg auch nicht mehr recht erholen. Die Revolution vom November 1918 brachte auch Büdingen einen Soldaten-, Arbeiter- und Bürgerrat.


1919-1933

1919 organisierte sich die Büdinger Sozialdemokratie dann wieder in einen neuen Ortsverein, dem Friedrich Stübing in den Anfangsjahren vorstand. Die "Goldenen Zwanziger" ließen sich gut an für die Partei: 1922 konnte eine Grupper der Sozialistischen Arbeiterjugend gegründet werden. 1925 formierte sich das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold in Büdingen. Die Mitgliederzahl wuchs ständig an (1929: 133 Mitglieder, 1930: 163 Mitglieder, 1931: ca. 200 Mitglieder), und immer mehr Frauen traten nicht nur bei, sondern waren politisch aktiv. Auch in der Kommunalpolitik faßte die SPD Fuß und stellte von 1926-1929 mit dem Genossen Hildner zum ersten Mal den Bürgermeister. Der 1903 in Darmstadt als Sohn eines Immobilienhändlers geborene Glenz arbeitete als Justuzobersekretär in Büdingen. Von 1930 bis Januar 1933 war er Mitglied des Gemeinderates in Büdingen. Auf der Kreiskonferenz der SPD in Stockheim 1931 wurde er zum Kandidaten für die Landtagswahl für die Kreise Schotten und Büdingen gewählt. 1932-1933 war er Landtagsabgeordneter. Glenz wurde 1933 aus dem Justizdienst entlassen, ging zurück nach Darmstadt und eröffnete ein Rechtsberatungsbüro. Am 14. September 1944 fiel er in Italien.. Über die letzten Jahre vor dem Verbot von 1933 wissen wir dank eines erhaltenen Protokollbuches etwas mehr. Glenz konnte über mehrere Jahre mit einem stabilen Vorstand arbeiten, lediglich die Position des Schriftführers wurde relativ häufig neu besetzt. Zur Führungsmanschaft gehörten in den Jahren 1928-1933 der stellvertretende Vorsitzende Förderer, der Rechner Abraham Sichel und die Genossen Hugo Döring, Zschietzschmann, Vogel, Sturm, Volkheimer und Zimmermann, die seit 1928 nacheinander als Schriftführer fungierten. Ergänzt wurde diese Gruppe durch die Genossen Hildner, K.Geyer, Pebler, Ludwig Lehning und Ramm sowie durch die Parteiveteranen Christian gunkel, Christian Spangenberg, August Adam und Ernst Körner, die alle schon kurz nach der Jahrhundertwende Parteimitglieder geworden waren. Ende der zwanziger Jahre war etwa ein Viertel aller Parteimitglieder Frauen. Sechs von ihnen gehörten allen Anschein nach mit zur Führungsmannschaft, sei es als Beisitzerinnen im Ortsvereinsvorstand, als Vorstandsmitglieder der Frauengruppe oder als führende Amtsinhaberinnen der Arbeiterwohlfahrt. Es waren die Genossinnen Glenz, Hummel, Klein, Mörschel, Neumann, Faust und Streibler. Die Genossin Mörschel besuchte als Büdinger Deligierte Landesfrauentage der SPD und Landeskonferenzen der Arbeiterwohlfahrt. Sie nahm an überregionalen Schulungskursen der Partei teil und versuchte, eine organisatorisch vom Ortsverein unabhängige Frauengruppe zu gründen. Als sich dann im Oktober 1932 tatsächlich eine selbstständige Frauengruppe etablierte, hatten sich die Gewichte ihrer Arbeit verschoben: es ging nun micht mehr in erster Linie um Themen wie Gleichberechtigung, gleicher Lohn für gleiche Arbeit oder die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Nun hieß es erst einmal die große Not lindern zu helfen, die als Folge von Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit auch in Büdingen um sich gegriffen hatte. Die Frauengruppe organisierte die Winterhilfe mit, verteilte Kleidung und Lebensmittel um kümmerte sich um die in Not Geratenen. Ein Blick in das Protokollbuch der Jahre 1928-1933 läßt uns den Altag der Genossen am Ende der Weimarer Republick ahnen. Vertraute Themen beherrschen die großen politischen Diskussionen: die zunehmende Arbeitslosigkeit und die besonderen Schwierigkeiten organisierter Arbeiter, eine Stelle zu finden, und das Thema Frieden und seine innere und äußere Bedrohung tauchen immer wieder auf. Obwohl die Vorbereitung von Wahlen, die Kandidatenkür und die Organisation von Veranstaltungen einen großen Teil der Zeit in Anspruch nimmt, gelingt den Genossen immer wieder den Blick über die Grenzen des unmittelbaren politischen Geschehens - so wenn die Partei trotz erheblicher Schwierigkeiten zu einem Abend mit dem Film "Im Westen nichts Neues" einlädt, oder wenn sich die Genossen einen Vortrag mit dem Thema "Sozialismus und Klassenkampf" anhören. Dieser Vortrag gipfelte in der Feststellung, "der Klassenkampf (sei) eine Notwendigkeit aus der Gesellschaftsordnung heraus und (....) gleichzeitig ein Kampf zu einem höheren Kulturfortschritt". Kultur war auch für die Büdinger Sozialdemokraten ein Schlüsselbegriff. Sie bemühten sich redlich mit theateraufführungen, Vortragsabenden und immer wieder mit Konzerten. Glanzlichter und Höhepunkte der Kulturarbeit waren die Maifeiern und die großen Winterveranstaltungen. Im Dezember 1931 beschloss die Mitgliederversammlung "mit Rücksicht auf die wirtschaftliche Notlage" auf die Winterveranstaltung zu verzichten und die Mitglieder lediglich zu einem gemütlichen Beisammensein einzuladen. Die wirtschaftliche und politische Lage verschärfte sich zusehends. Schon Ende der 20er Jahre beschäftigten sich die Büdinger Sozialdemokraten mit den Gefahren des Nationalsozialismus. Die Situation war kritisch kommentier, es werden immer wieder Versuche unternommen, das Reichsbanner und die Eiserne Front auch in Büdingen zu aktivieren, wiederholt ruft der Vorstand die Genossen auf, "mehr Bekennermut zu zeigen". Tatsächlich nimmt zunächst die Zahl der Mitglieder, die zu Versammlungen kommen, zu: bis zu 60 Genossen nehmen an Mitgliederversammlungen teil. Im Oktober 1932 scheint es zu ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokraten und SS bei Mitgliederversammlungen gekommen zu sein - Bekennermut wurd lebensgefährlich: Im Februar 1933 nehmen noch 35 Genossen an der Jahreshauptversammlung teil, und Mitte April 1933 heißt es schon fast resignierend im Protokollbuch: "Es muß nun das Bestreben sein des Vorstands, den kleinen Kreis der noch zuverlässigen Genossen durch Zusammenkünfte zusammenzuhalten und die Ortsgruppe wieder nach und nach auszubauen." Die Zeit der Verfolgung und Unterdrückung hatte auch in Büdingen begonnen. Ihre letzte öffentliche Versammlung am 2.3.33 konnte die SPD nur noch dank des "energischen Auftretens" der Büdinger Polizei abhalten, die 100 bis 150 Nazis daran hinderte, die Versammlung im unteren Rathaussaal zu sprengen. Repressalien und Terror gegen die Sozialdemokraten nahmen zu. Am 25. Juni 1933 beschloss der Vorstand, die Auflösung des Ortsvereins Büdingen, um illegal besser weiterarbeiten zu können.


1933-1945

In der Zeit der braunen Diktatur war den Sozialdemokraten und anderen politischen und religiösen Gruppen jede Arbeit verboten. Viele verloren ihren Arbeitsplatz, wurden verfolgt, in Konzentrationslager gepfercht. Viele mußten ihre Heimat verlassen. Viele fanden den Tod. Die Dokumente die darüber Auskunft geben könnten, wie Polizei und SA-Akten, Zeitungen und Flugschriften, wurden in Büdingen offensichtlich von interessierten NS-Gefolgsleuten nach dem Krieg vernichtet, um belastendes Material aus dem Weg zu schaffen. Die Recherchen von Frau Huxhorn-Engler können deshalb erst wieder ab 1945 ansetzen.


1945-1949


Bereits am 19. April 1945, fast drei Wochen vor Kriegsende, beschlossen Kurt Schumacher und einige andere Genossen bei einem Treffen in Hannover die Wiedergründung der SPD. Auf dem Parteitag vom 9. bis 11. Mai 1946 in Hannover wurde der Wiederaufbau der Partei dann formal vollendet: Delegierte aus den Westzonen und Berlin wählten Kurt Schumacher zum Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (faktisch nur der Westzonen und Berlins) und Erich Ollenhauer vom Exilvorstand, der im Februar nach Deutschland zurückgekehrt war, zum Stellvertreter. Ende 1946 hatte die SPD über 700 000 Mitglieder, mehr als 1931 auf dem Gebiet der Westzonen. Vor allem drei Faktoren hatten im zerstörten Deutschland den schnellen Wiederaufbau der SPD zur Mitglieder- und Programmpartei ermöglicht: Der Exilvorstand in London, die Motivationskraft der sozialistischen Ideen und die überragende Persönlichkeit Kurt Schumachers.
Die Sozialdemokratie musste zwar als gut organisierte Partei quasi aus dem Nichts wiedergegründet werden; aber als Ideen- und Wertegemeinschaft hatte sie zwölf Jahre Naziterror überlebt. Der schnelle Wiederaufbau der SPD 1945/46 bestätigte den historischen Optimismus von Otto Wels: Am 23. März 1933, als nur die SPD-Abgeordneten Hitlers Ermächtigungsgesetz ablehnten, hatte er, trotz machtpolitischer Ohnmacht, zuversichtlich erklärt: "Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten." Es waren diese Ideen, die nach der Befreiung tausende Sozialdemokraten motivierten, sich spontan und "basisdemokratisch" politisch zu engagieren, und unter widrigen Umständen die älteste demokratische Partei Deutschlands wieder aufzubauen.
Dem Engagement von Kurt Schumacher ist es zu verdanken, dass er diese basisdemokratischen Aktivitäten integrierte und die SPD als Mitglieder- und Programmpartei zu einem Machtfaktor für den Neuaufbau Deutschlands machte. Kurt Schumacher, bis 1933 Reichstagsabgeordneter, nach elf Jahren KZ-Haft körperlich zwar geschwächt, aber geistig ungebrochen, wurde nicht nur für die organisatorische Stärkung, sondern auch für die intellektuell-programmatische Orientierung der SPD zu einer charismatischen Persönlichkeit im Nachkriegsdeutschland.
In Hessen unternahmen bereits im März 1945 – und damit noch in der Illegalität – einzelne Sozialdemokraten wie Ludwig Metzger, Willy Knothe, Franz Ulrich und Rudi Menzer Anstrengungen, ehemalige Parteimitglieder zu reaktivieren und die Wiederbetätigung der SPD schrittweise zu ermöglichen. In dieser Zeite wurden noch Sozialdemokraten auf Befehl des NS-Funktionärs Alfred Schmiering wegen „Aufwiegelei“erschossen.
Nach der bedingungslosen Kapitulation am 8.5.1945 begann sich die Situation zu normalisieren, wenngleich es den Parteien noch immer nicht möglich war, ohne ausdrückliche Genehmigung der amerikanischen Besatzungsmacht Organisationsstrukturen auszubilden und sich aktiv zu betätigen. Für die Büdinger SPD bedeutete dies daher zunächst im Verborgenen weiterzuarbeiten. In kleinen Gruppen trafen sich alte Sozialdemokraten und ehemalige Mitglieder und berieten, wie die SPD wiederbegründet werden könne. Diese Treffen bedeuteten auch die Wiederaufnahme zumeist jahrzehntelanger persönlicher Kontakte unter alten Genossen. Nicht zuletzt aufgrund dieses sozialdemokratischen Netzwerks gelang der SPD der Aufbau der Partei besser als allen anderen Parteien in Hessen.
In Frankfurt fand schon am 8. August 1945 die erste Bezirksversammlung der SPD statt, nachdem zunächst nur lokale bzw. kommunale Parteigründungen durch die amerikanischen Behörden gestattet worden waren. Willy Knothe sprach als Vorsitzender der „Landesparteileitung“ das Grußwort und analysierte die aktuelle politische Situation sowie die Chancen für die SPD, Dinge politisch zu gestalten. Er riet den anwesenden Mitgliedern die Organisationsstrukturen für Frankfurt sowie für Hessen so schnell wie möglich wieder aufzubauen. Der einmalige Beitrag für den Beitritt betrug zu diesem Zeitpunkt zwei Reichsmark, der Monatsbeitrag wurde auf eine Reichsmark festgelegt.


1949-1969


Als Oppositionspartei im Bundestag gewinnt die SPD in den 1950er Jahren immer stärkeren Einfluss in den Städten und Ländern. Außenpolitisch zunächst von dem Vorrang der Wiedervereinigung geleitet, lehnt sie - obgleich prinzipiell proeuropäisch orientiert - Adenauers Westpolitik ab.
Sie bejaht die Römischen Verträge und schwenkt Ende der 50er Jahre auf den Kurs der Westintegration ein, ohne das Ziel der Wiedervereinigung aus den Augen zu verlieren. In der DDR haben am 17. Juni 1953 gegen den Massenaufstand von Arbeitern nur noch sowjetische Panzer die Herrschaft des SED-Regimes gerettet: Der Aufstand wird blutig niedergeschlagen. 1961 vollendet der Mauerbau auch physisch die Spaltung des Landes.
Die SPD verabschiedet 1959 nach einem längeren kontroversen Diskussionsprozess das Godesberger Grundsatzprogramm und öffnet sich damit endgültig zur Volkspartei. Sie gewinnt breite Wählerschichten hinzu, nicht zuletzt aus kirchlich gebundenen Kreisen. Willy Brandt und Herbert Wehner führen die Partei in die Regierungsverantwortung - zunächst ab 1966 im Rahmen einer Großen Koalition mit der CDU, seit 1969 in einer sozial-liberalen Koalition mit der FDP.
Dem gehen wichtige Veränderungen auf der Ebene der Bundesländer, so 1966 die Übernahme der Regierungsverantwortung in Nordrhein-Westfalen, und 1969 die Wahl des Sozialdemokraten Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten voraus. In den meisten Großstädten der Bundesrepublik hat die SPD in den 1950er und 1960er Jahren das Vertrauen der Mehrheit der Wähler in der Kommunalpolitik gewonnen.


1969-1982


Die Zeiten sind reif für den Aufbruch aus konservativer Erstarrung und für Reformen und neue Wege der Friedenssicherung und Entspannung. 1969 wird Willy Brandt der erste sozial-demokratische Bundeskanzler der Nachkriegsgeschichte. Er ergänzt die Westintegration durch die "neue Ostpolitik", die durch Verträge mit der Sowjetunion, Polen, der Tschechoslowakei und durch einen Grundlagenvertrag mit der DDR, der durch weitere Verträge ausgefüllt wird, zu einem geregelten Nebeneinander mit den kommunistisch regierten Ländern führt.
Sie erreichen Erleichterungen für die Menschen in Deutschland und stärken die Verbindungen zwischen den beiden Teilstaaten. Für diese Politik, an deren Entwicklung auch Egon Bahr einen wichtigen Anteil hat, erhält Willy Brandt am 10. Dezember 1971 den Friedensnobelpreis.
Ende der 1960er Jahre kann sich die SPD zugleich an die Spitze starker Reformkräfte der westdeutschen Gesellschaft setzen, die auch von der Studentenbewegung in Gang gesetzt worden sind. 1972 erringt Willy Brandt einen überzeugenden Wahlsieg. In diesem Jahr gründet sich die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (ASF) und überholte Rechtsnormen, z.B. der § 218, werden reformiert. Die Regierung nimmt das Verlangen nach Gleichberechtigung der Frau ernst und wird Anwalt eines modernen Ehe- und Familienrechts.
Nach Enttarnung eines DDR-Spions im Kanzleramt übergibt Willy Brandt 1974 das Amt des Bundeskanzlers an Helmut Schmidt. Unter sozialdemokratischer Führung wird in den 1970er Jahren die Herausforderung des Links-Terrorismus überwunden, und es gelingt der sozial-liberalen Regierung, die Folgen der Ölkrisen und andere weltwirtschaftliche Turbulenzen zu meistern.
Die Politik dieser beiden sozialdemokratischen Kanzler für ein modernes Deutschland mehrt die soziale Gerechtigkeit durch den Ausbau des Sozialstaats und verschafft der Bundesrepublik Deutschland internationales Ansehen. Die Sozialdemokratie führt eine intensive Debatte über Abrüstung, Rüstungspolitik und Friedenssicherung.


1982-1989


1982 verlässt die FDP die sozialliberale Koalition und verschafft den Unionsparteien die Mehrheit in Bonn. Die SPD wird auf die Rolle der Opposition zurückgeworfen und beginnt einen anhaltenden Prozess programmatischer Erneuerung, in dem sie ihre Rolle als demokratische Partei in einem hoch entwickelten Industrieland neu definiert und Antworten auf die Herausforderungen durch die neuen sozialen Bewegungen formuliert.
Als politische Kraft erstarkt sie in den Landtagen und übernimmt Regierungsverantwortung in der Mehrheit der Länder. Obwohl 1987 Willy Brandt den Vorsitz der Partei in die Hände von Hans-Jochen Vogel übergibt, bleibt seine Stimme in der Politik von Gewicht.
Sie wird besonders deutlich gehört, als 1989 die Berliner Mauer fällt - "Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört" -, die kommunistischen Diktaturen zusammenbrechen und die beiden deutschen Staaten vereinigt werden können. Noch unter der SED-Diktatur wird in der DDR von mutigen Bürgerrechtlern wie Markus Meckel und Martin Gutzeit die SDP (Sozialdemokratische Partei in der DDR) als Bruderpartei der westdeutschen SPD gegründet; noch vor der deutsch-deutschen Vereinigung verschmelzen 1990 beide Parteien.


1989-2000


1989 wird in Berlin ein neues Grundsatzprogramm verabschiedet, das die Ergebnisse der gesellschaftlichen und innerparteilichen Diskussion zur sozialen und ökologischen Erneuerung der Industriegesellschaft bündelt. Nach einer Phase, in der die Sozialdemokratie ihre Position in den Ländern ausbaut, doch bundespolitisch in der Opposition bleibt, werden "Innovation und Gerechtigkeit" die Leitbegriffe, unter denen die SPD unter der Führung von Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder die Bundestagswahl am 27.September 1998 gewinnt.
Der neue Bundeskanzler Gerhard Schröder und seine Koalition aus Sozialdemokraten und Grünen nehmen sich ein ehrgeiziges Reformprogramm vor, das auf die Korrektur sozialer Ungerechtigkeiten, die Ordnung der zerrütteten Staatsfinanzen, eine umfassende Steuerreform und Investitionen in Zukunftsaufgaben zielt. Nach dem Rücktritt Oskar Lafontaines von allen seinen Ämtern wird Gerhard Schröder im April 1999 auch Parteivorsitzender. Der Berliner Parteitag im Dezember 1999 bestätigt ihn in diesem Amt und wählt Franz Müntefering zum neuen Generalsekretär der Partei. Die SPD war an der Jahrhundertwende wieder die wichtigste gestaltende politische Kraft in Deutschland.
Unter sozialdemokratischer Führung hat eine umfassende Modernisierung der deutschen Gesellschaft im europäischen Kontext begonnen.
Das Kabinett Schröder setzt wichtige Akzente für einen gesellschaftspolitischen Aufbruch: Familien rücken in den Mittelpunkt vieler politischer Initiativen und profitieren so von spürbaren Entlastungen. Bildung und Forschung werden massiv gefördert – die Investitionen für die Verkehrsinfrastruktur erreichen einen noch nie da gewesenen Spitzenwert. Damit Deutschland wieder zusammenwächst, wird der Solidarpakt verlängert und die Ausgaben für den Aufbau Ost werden erhöht.
Außenpolitisch hat die Regierung Schröder große Herausforderungen zu meistern: Im Kosovo-Konflikt sind deutsche Soldaten erstmals an einem militärischen Einsatz beteiligt. Und auch in Mazedonien sorgen Bundeswehrsoldaten für die Erhaltung des Friedens und verhindern einen Bürgerkrieg. Ein souveränes Deutschland findet eine neue, verantwortungsvolle Position in der internationalen Politik.
Am 11. September 2001 erschüttern die Terroranschläge auf das World Trade Center und das Pentagon in den USA die ganze Welt. Deutschland ist von Beginn an ein wichtiger Partner in der als Reaktion auf den Anschlag gebildeten „Koalition gegen den internationalen Terrorismus“. Nach der gezielten Bekämpfung der Terror-Organisation „El Kaida“ und der fundamentalistischen Taliban-Regierung in Afghanistan begleitet die deutsche Regierung im Verbund mit den europäischen Nachbarn den friedlichen und demokratischen Neuanfang in Afghanistan. Dieser Zusammenhalt ist ein Beleg dafür, dass Deutschland und vor allem Europa eine zunehmend wichtigere Rolle in der Welt spielen.
Europa ist enger zusammengewachsen; zum 1. Januar 2002 wird der gemeinsame europäische Wirtschaftsraum auch für die Menschen erfahrbar. In einer beispiellosen Währungsumstellung wird der Euro erfolgreich als gesamteuropäische Währung eingeführt.
Am 22. September 2002 gewinnt Rot-Grün die Bundestagswahl. Die SPD wird zum dritten Mal stärkste Partei im deutschen Bundestag. Olaf Scholz, der neue Generalsekretär, sagt, die 140 Jahre alte Partei pflege die Tradition und sei zugleich offen für Neues. Und unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders macht sich die SPD jetzt auf, den Sozialstaat zu erneuern, um ihn zu erhalten.

2000-2023

In den 1980er-Jahren orientierte sich die SPD zunächst stärker in Richtung der postmaterialistischen Wählerschichten. Das 1989 beschlossene Berliner Programm nahm vom alten Wachstumsdenken Abstand. Durch die Bildung von Koalitionen mit den Grünen in den Ländern zeichnete sich zu dieser Zeit die Möglichkeit einer Wiedergewinnung der Mehrheit auch auf Bundesebene ab. Dass es dazu erst 1998 kam, hing nicht nur mit der deutschen Vereinigung zusammen, die die SPD gegenüber der Union und ihrem "Kanzler der Einheit" Helmut Kohl ins Abseits stellte. Die Partei litt zugleich unter personellen Problemen. Die Troika Wehner - Brandt - Schmidt war in den 1960er- und 1970er-Jahren ein Glücksfall gewesen. Die Generation, die in den 1980er-Jahren nach der Macht griff, rivalisierte dagegen offen um die Führungsposition. In der 16 Jahre währenden Ära Kohl verschliss die SPD insgesamt fünf Parteivorsitzende und ebenso viele Kanzlerkandidaten. Eine Klärung trat erst nach dem Regierungswechsel 1998 ein, als sich der neue Kanzler Gerhard Schröder im innerparteilichen Machtkampf gegen den Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine durchsetzte.

Die deutsche Einheit brachte die SPD auch in struktureller Hinsicht ins Hintertreffen. Die Erwartung der im Osten als Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP) im Oktober 1989 wiedererstandenen Partei, das einstige Stammland der Sozialdemokratie in Mitteldeutschland im Selbstlauf zurückerobern zu können, entpuppte sich als Trugschluss. Die Traditionen, auf die sie dabei abstellte, kehrten sich sogar gegen die SPD, indem dieser für den gescheiterten Sozialismus der DDR eine Mitschuld gegeben wurde. Die Sozialdemokraten waren gegenüber der Konkurrenz überdies organisatorisch im Nachteil. Während CDU und FDP auf die Ressourcen der Blockparteien zurückgreifen konnten, kam für sie eine Zusammenarbeit mit den SED-Nachfolgern schon aus historischen Gründen nicht in Frage. Spätestens seit dem Wiedererstarken der Postkommunisten entwickelten sich die neuen Bundesländer für die SPD zu ausgesprochenen Problemgebieten. Nur bei einer Bundestagswahl (2002) gelang es ihr hier, ein besseres Ergebnis als im Westen zu erzielen. 

So nützlich die Arbeitsteilung zwischen dem "Modernisierer" Schröder und "Traditionalisten" Lafontaine für die Erringung des Wahlsiegs 1998 war, so wenig hilfreich erwies sie sich für die anschließende Arbeit der Regierung. Der nach Lafontaines Rücktritt als Finanzminister und Parteivorsitzender (März 1999) eingeleitete Strategiewechsel hin zu einer stabilitätsorientierten Konsolidierungspolitik wurde durch die hohe Arbeitslosigkeit durchkreuzt, die zu steigenden Kostenbelastungen für die öffentlichen Haushalte und Sozialversicherungen führte. Auf der Habenseite der Koalition standen ihre gesellschaftspolitischen Reformen (Zuwanderungs- und Lebenspartnerschaftsgesetz) und der Atomausstieg, die die schwache wirtschaftspolitische Bilanz aber nicht aufwiegen konnten (Wolfrum 2013). Dass SPD und Grüne die Bundestagswahl 2002 knapp gewannen, verdankten sie zwei glücklichen Zufällen - der Oderflut in Ostdeutschland, die es dem Kanzler ermöglichte, sich als tatkräftiger Krisenmanager zu inszenieren, und der Diskussion über den von den USA geplanten Irakkrieg. Dass Schröder dessen Ablehnung zum zentralen Bestandteil seiner Kampagne machte, war insofern bemerkenswert, als Rot-Grün mit der Zustimmung zu den Militäreinsätzen im Kosovo (1999) und in Afghanistan (2001) zuvor selbst eine Zäsur in der deutschen Außenpolitik herbeigeführt hatte (Fischer 2005: 110 ff.). 

In Schröders zweiter Amtszeit wurde das Ruder in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik um 180 Grad herumgerissen. Die im März 2003 verkündete "Agenda 2010", die das Kanzleramt ohne Einbeziehung der Partei entwickelt hatte, stieß in der SPD auf erhebliche Vorbehalte (Spier / Alemann 2013: 445). Ihre umstrittensten Elemente waren die Verschmelzung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf dem geringeren Niveau der Sozialhilfe und die Schaffung eines Niedriglohnsektors zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit. Ähnlich unpopulär geriet die unter sozialdemokratischer Federführung durchgesetzte Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre in der Regierungszeit der Großen Koalition, über die die SPD ihre Wähler im Wahlkampf ebenso im Unklaren gelassen hatte wie über die von ihr ursprünglich kategorisch abgelehnte Mehrwertsteuererhöhung. Die Reformmaßnahmen zogen eine Serie von Landtagswahlniederlagen und - langfristig bedeutsamer - die Abspaltung einer gewerkschaftsnahen Konkurrenzpartei nach sich (Arbeit & soziale Gerechtigkeit - Die Wahlalternative, WASG), deren späterer Zusammenschluss mit der ostdeutschen PDS ausgerechnet vom ehemaligen SPD-Vorsitzenden Lafontaine betrieben wurde. Um dem innerparteilichen Widerstand die Spitze zu nehmen, gab Schröder den Parteivorsitz 2004 an Franz Müntefering ab. 

Nach der Abwahl der letzten verbliebenen rot-grünen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen (Mai 2005) trat der Kanzler die Flucht nach vorne an, indem er den Weg für vorgezogene Neuwahlen freimachte (Sturm 2009: 207 ff.). Mit der Bundestagswahl 2005 endeten Schröders Kanzlerschaft und die rot-grüne Regierung, nicht jedoch die sozialdemokratische Regierungsbeteiligung. Dass die SPD wesentlich besser abgeschnitten hatte als erwartet, versetzte sie am Wahlabend in Euphorie, obwohl die Gründe dafür primär in der missglückten Kampagne der Union lagen. Tatsächlich markierte die Wahl mit der Etablierung der gesamtdeutschen Linkspartei einen tiefen Einschnitt, dessen Folgen die SPD erst später richtig zu spüren bekommen sollte. Die SPD arbeitete in der Großen Koalition professionell, zeigte sich aber ansonsten zerstritten. Nicht nur, dass die Parteivorsitzenden bis 2009 in noch kürzerer Folge wechselten. Es fehlte auch an einer klaren programmatischen Alternative zur Union und realistischen Machtperspektive. 

Das Debakel bei der Bundestagswahl 2009, bei der ein erheblicher Teil der vormaligen Stammwähler der SPD den Rücken kehrten und sie mit ihrem Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier ihr bis dahin schlechtestes Ergebnis in der Nachkriegszeit erzielte, war unter diesen Bedingungen vorgezeichnet. Die Rückkehr der SPD in die Opposition nach elfjähriger Regierungszeit zog einen abermaligen Wechsel an der Parteispitze nach sich. Sigmar Gabriel löste Müntefering ab. Unter seiner Führung vermittelte die Partei nach außen hin wieder ein attraktiveres Bild, das sich in den Landtagswahlergebnissen niederschlug. In Nordrhein-Westfalen (2010), Hamburg, Baden-Württemberg (2011), Schleswig-Holstein (2012) und Niedersachsen (2013) gelang es der SPD allein oder zusammen mit den Grünen, CDU-geführte Regierungen abzulösen. Auf der Bundesebene blieb ihre Ausgangslage 2013 dagegen genauso ungünstig wie 2009 und wurde durch die unvorbereitet wirkende Kanzlerkandidatur Peer Steinbrücks nicht gerade verbessert, dessen betont wirtschaftsfreundliche Positionen sich mit der Mehrheitsmeinung der Partei nur zum Teil deckten. Das enttäuschende Wahlergebnis (25,7 Prozent) stellte die SPD vor die schwierige Frage, ob sie erneut als Juniorpartner in eine Große Koalition eintreten sollte. Gabriel fing die Bedenken dadurch auf, dass er die Zustimmung zum Koalitionsvertrag von einem Mitgliederentscheid abhängig machte. Dessen klares Ergebnis - bei einer überraschend hohen Beteiligung von 78 Prozent stimmten 76 Prozent mit Ja - stärkte die Machtbasis des Vorsitzenden, der mit der gleichzeitigen Übernahme der Ämter des Vizekanzlers und Wirtschaftsministers jetzt zur unbestrittenen Führungsfigur der SPD aufstieg (Spier / Alemann 2015: 64 ff.). 

Obwohl die SPD in der Koalition zentrale Vorhaben wie die Rente nach 45 Beitragsjahren und den gesetzlichen Mindestlohn durchsetzen konnte, konnte sie diese Erfolge in der öffentlichen Wahrnehmung nicht für sich nutzen. In der Euro- und Flüchtlingspolitik agierte sie nach außen hin zwar geschlossener als die Union, zeigte sich innerlich aber genauso zerrissen. Gabriels Neigung zu kurzfristigen Positionswechseln, die die Stimmung an der Parteibasis in sensiblen Fragen wie der Freihandelspolitik oder Vorratsdatenspeicherung überging, enttäuschte die in den Vorsitzenden gesetzten Hoffnungen auf einen integrativeren Führungsstil. 

Zu Beginn des Wahljahres 2017 überraschte Gabriel Öffentlichkeit und die eigene Partei, als er nicht nur eine mögliche Kanzlerkandidatur, sondern auch den Parteivorsitz an Martin Schulz abgab, der bis kurz vorher Präsident des Europäischen Parlaments gewesen war. Unter Schulz kam es zu zahlreichen Neueintritten und einem abrupten Aufschwung in den Umfragen, der aber im Zuge der für die SPD enttäuschend verlaufenden Landtagswahlen im Saarland (März 2017), Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen (beide Mai 2017) rasch wieder abflachte, sodass die Ausgangsposition für die Bundestagswahl Mitte 2017 ähnlich ungünstig war wie vier Jahre zuvor. Besonders schmerzlich geriet die Niederlage bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, der man selbst eine Signalfunktion für die Wahl im Bund zugemessen hatte. Die erneut fehlende Machtperspektive, die zusätzliche Konkurrenz der AfD und die ungünstig verlaufende Wahlkampagne führten dazu, dass die SPD bei der Bundestagswahl 2017 ihr bisher schlechtes Resultat von 2009 noch einmal unterbot und nur auf 20,5 Prozent der Stimmen kam. Der von der Parteiführung noch am Wahlabend verkündete Gang in die Opposition erschien vor diesem Hintergrund folgerichtig und stieß unter den Funktionären und an der Basis auf einhellige Zustimmung. Entsprechend groß war der Widerstand, als die Partei nach dem Scheitern der Gespräche über ein Jamaika-Bündnis von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (den sie im Jahr zuvor als ihren Kandidaten für dieses Amt durchgesetzt hatte) angehalten wurde, die Koalition mit den Unionsparteien fortzusetzen. Obwohl die SPD in den folgenden Verhandlungen wie 2013 viele ihrer Forderungen durchsetzen konnte und mit dem Finanz-, Arbeits- und Außenministerium drei Schlüsselressorts erhielt, fiel die Zustimmung zum Koalitionsvertrag mit 66 Prozent Ja-Stimmen geringer aus als 2013. Um sie nicht zu gefährden, musste Martin Schulz seine öffentliche Ankündigung, anstelle von Sigmar Gabriel als Außenminister in die Regierung einzutreten, zurücknehmen. Schulz hatte zuvor bereits den Verzicht auf den Parteivorsitz erklärt, den ab April 2018 die neue Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles (mit) übernahm. Finanzminister und Vizekanzler wurde Olaf Scholz. Schulz‘ Vorgänger Sigmar Gabriel ging bei der Ämterverteilung leer aus; seine Nachfolge im Auswärtigen Amt trat der bisherige Justizminister Heiko Maas an. Die Neuauflage der Großen Koalition stand von Beginn an unter einem schlechten Stern. Das unionsinterne Zerwürfnis über die Flüchtlingspolitik brachte die Regierung bereits drei Monate nach ihrem Amtsantritt an den Rand des Scheiterns. Dies zog auch die SPD weiter in den Keller, was die Kritiker des erneuten Regierungseintritts als Bestätigung auffassten. Das wenig konsequente Agieren der durch eine Serie von verpatzten öffentlichen Auftritten unter Druck geratenen Vorsitzenden Nahles bei der Entlassung des Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen quittierten die Wähler mit Stimmenverlusten bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen sowie historisch schlechten Umfragewerten. 

Nachdem die SPD bei der Europawahl im Mai 2019 im Vergleich zur Bundestagswahl nochmals um 4,7 Prozentpunkte absackte, gab Andreas Nahles entnervt ihren Rücktritt von allen Ämtern bekannt und zog sich ganz aus der Politik zurück. Im Fraktionsvorsitz folgte ihr Rolf Mützenich. Für die Neubesetzung des Vorsitzendenamtes betrat die Partei Neuland, indem sie zum ersten Mal die Wahl einer geschlechterparitätisch besetzten Doppelspitze ermöglichte. Dem formellen Votum des Parteitags im Dezember 2019 ging dabei - zum zweiten Mal nach 1993 - eine Mitgliederbefragung voraus, die sich über mehrere Monate hinzog. In der Stichwahl unterlag das von der Parteiführung favorisierte Duo aus Finanzminister Olaf Scholz und der brandenburgischen Landtagsabgeordneten Klara Geywitz überraschend dem früheren nordrhein-westfälischen Finanzminister Norbert Walter-Borjans und der Bundestagsabgeordneten Saskia Esken. Letztere hatten sich in ihrer Kampagne skeptisch gegenüber einem weiteren Verbleib in der Regierung geäußert und waren darin vor allem von den Jungsozialisten unterstützt worden. Hoffnungen auf einen baldigen Regierungsaustritt wurden wegen des zu erwartenden Widerstandes der Fraktion und SPD-Minister von den neuen Vorsitzenden rasch gedämpft. Sie standen spätestens nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie nicht mehr zur Debatte. Stattdessen bemühten sich Walter-Borjans und Esken jetzt um ein möglichst einvernehmliches Auftreten der Führungsspitze. Obwohl sich dies im gemeinsamen Krisenmanagement der Regierung gut bewährte, trug es der SPD im Unterschied zur Union kaum verbesserte Umfragewerte ein.

 Symptomatisch für das weiter bestehende Führungsvakuum war, dass ausgerechnet Olaf Scholz, dessen Ablösung als Finanzminister nach der verlorenen Vorsitzendenwahl schon fast besiegelt schien, sich jetzt wieder Chancen auf die Kanzlerkandidatur ausrechnen konnte. Seine einstimmige Nominierung durch Präsidium und Vorstand erfolgte bereits im August 2020, mehr als ein Jahr vor der Bundestagswahl. Lag die SPD in den Umfragen bis zu Beginn des Wahlkampfes scheinbar abgeschlagen auf Platz drei hinter den Union und den Grünen, so gelang es ihr völlig überraschend, beide Konkurrenten bis zum Wahltag zu überholen und zum ersten Mal seit 2002 wieder stärkste Kraft zu werden. 

An der Spitze einer Ampelkoalition mit Grünen und FDP zog Olaf Scholz als vierter sozialdemokratischer Regierungschef in das Kanzleramt ein (Turner / Vampa / Scantanburlo 2022). Der Wahlsieg verdankte sich neben der gut geplanten und fehlerfrei verlaufenen Kampagne vor allem der Schwäche der beiden Hauptkonkurrenten - Union und Grünen - und deren Kanzlerkandidaten, weniger der eigenen Überzeugungskraft. Nach der trotz der programmatischen Differenzen mit den Partnern vergleichsweise problemlosen Regierungsbildung sah sich die SPD durch den russischen Angriff auf die Ukraine binnen weniger Monate einer völlig neuen außen- und innenpolitischen Realität gegenüber, die sie zugleich mit den Irrtümern ihrer eigenen Politik konfrontierte. Dass sie deren Aufarbeitung und die politische Neuorientierung jetzt aus der Regierungsrolle heraus leisten muss, stellt die Partei in den kommenden Jahren vor große Herausforderungen. Infolge des Wahlerfolgs kam es nach der Regierungsbildung in der Partei nur zu wenig personellen Änderungen. Während Mützenich Fraktionsvorsitzender blieb, rückte Generalsekretär Lars Klingbeil anstelle von Walter-Borjans zum Ko-Vorsitzenden auf. An seine Stelle trat der frühere Juso-Chef und Exponent des linken Parteiflügels Kevin Kühnert als neuer Generalsekretär. In der Regierung behielt Hubertus Heil sein Amt als Arbeits- und Sozialminister, Christine Lambrecht wechselte vom Justiz- ins Verteidigungsressort, wurde jedoch nach etwa 13 Monaten vom niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius abgelöst. Mit der hessischen Landesvorsitzenden Nancy Faeser wurde zum ersten Mal in der Bundesrepublik eine Frau Innenministerin. Ihre Berufung stellte eine Überraschung dar - anders als die Übernahme des Gesundheitsressorts durch Karl Lauterbach, die sich vor allem dessen Omnipräsenz als Coronaexperte verdankte und von daher weniger der Parteilogik als plebiszitärem Druck geschuldet war.

SPD-Kanzler von 1919 bis heute:


Die Vorsitzenden der SPD in Büdingen:

  • 1919 - 1925: Friedrich Stübing
  • 1925 - 1933: Georg Philipp Glenz
  • 1945: W. Pebler
  • 1946: Karl Geyer
  • 1947 - 1948: Willi Zinnkann
  • 1949: Adolf Biswanger
  • 1950 - 1956: Willi Zinnkann
  • 1957 - 1959: Norbert Wenner
  • 1960 - 1970: Otto Hartung
  • 1971: Willi Zinnkann
  • 1972: Otto Hartung
  • 1973 - 1974: Erich Hübner
  • 1975 - 1976: Otto Hartung
  • 1977 - 1978: Erich Bäppler
  • 1981 - 1985: Ulrich Engler
  • 1985 - 1987: Lutz Höritzsch
  • 1987 - : Renate Nuschke
  • Levin Ulrich
  • 2011 - 2013: Heinrich Sperl
  • 2013 - 2016: Bernd Friedl
  • 2016 - 2017: Rolf Kleta
  • 2017 - 2021: Manfred Scheid-Varisco
  • seit 2021: Boris Winter

 

Impressum:


Idee & Umsetzung: Dieter Egner Recherche: Sieglinde Huxhorn-Engler, Historikerin Quellen: Stadtarchiv, 63654 Büdingen SPD Archiv, 63654 Büdingen Postkarten: H.J. Freymann Online aufbereitet: Manfred Scheid Copyright: Vorstand der SPD Büdingen/Hessen (Ortsbezirk)

Beiträge ab 2000 Quelle: https://www.bpb.de/themen/parteien/parteien-in-deutschland/spd/42082/etappen-der-parteigeschichte-der-spd/

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